Wie entsteht der neue Lehrplan?
Wir erheben Evidenzen (Studien, Befragungen, Expertinnen- und Experteninterviews, uvm.), erstellen darauf basierend Vorschläge und ersuchen in umfassenden Resonanzphasen um Feedback. Dann entwickeln wir die Vorschläge weiter oder ändern sie entsprechend ab. Dabei versuchen wir, möglichst alle Anspruchsgruppen einzubeziehen, und versuchen, die Ansprüche zu clustern (vgl. normativer Managementprozess im St. Galler Managementkonzept, Dubs 2010). Hierbei versuchen wir, nicht Machtansprüchen, sondern sachlich begründeten Argumenten den Vorrang zu geben.
Anspruchsgruppenkonzept
Anspruchsgruppen sind alle Personengruppen, die berechtigte Ansprüche an die Schule haben. Im Bereich der kaufmännischen Schulen bspw. Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen, Schulleitungen, Unternehmen, Interessensvertretungen (z.B. Gewerkschaft, Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer, Elternvertretung, Bankenverband, uvm), Wissenschaft, Politik (z.B. Ministerien mit unterschiedlichen Anliegen) bis hin zu Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft.
Üblicherweise sehen die meisten Anspruchsgruppen einen Lehrplan erst iRd gesetzlichen Begutachtung. Änderungen sind zu diesem späten Zeitpunkt umständlich und meist mit hohem Zeitdruck verbunden. Deshalb versuchen wir, alle Anspruchsgruppen möglichst frühzeitig zu informieren und in einen partizipativen Prozess (vgl. Resonanzphasen) zu integrieren.
Schulleitungen und Lehrerinnen und Lehrer werden seit November 2021 regelmäßig informiert, es gab einen Newsletter (HAKtivitäten), mehrere Impulsveranstaltungen, Diskussionsrunden, Tagungen und Webcasts für alle Lehrerinnen und Lehrer. Zahlreiche Unternehmen wurden interviewt oder im Rahmen von Studien befragt. Neben vielen Gesprächsrunden gab es auch mehrere Resonanzphasen mit sämtlichen Stakeholdern. Insgesamt waren bereits über 2700 Personen aus den Anspruchsgruppen und 17.500 Jugendliche involviert.
Jugendpartizipation
Noch nie wurden in einem Lehrplanentwicklungsprozess die Meinung und die Wünsche der Jugendlichen einbezogen. Jugendliche sind aber jedenfalls einer der Hauptbetroffenen, denn es geht um ihr zukünftiges Leben. Im Rahmen einer großen Jugendstudie der unabhängigen Organisation „YEP – Stimme der Jugend“ wurden rund 17.500 (!) Jugendliche befragt und eine Gruppe mit Vertreterinnen und Vertreter aus ganz Österreich gebildet, die den Prozess seit Herbst 2023 begleitet.
Herzstück der Zusammenarbeit mit YEP bildet der Jugendbericht „#DemokratieMachtSchule: Was Schüler*innen vom Lehrplan der Zukunft erwarten“.
Im Rahmen dieses Jugendberichts wurden die Einstellungen und Meinungen der Jugendlichen zu Schule generell und zur HAK im Speziellen abgefragt sowie Wünsche und Forderungen formuliert.
YEP-Jugendbericht „#DemokratieMachtSchule: Was Schüler*innen vom Lehrplan der Zukunft erwarten“
Dieser Bericht wurde von Jugendlichen im Oktober 2023 an Herrn Bundesminister Dr. Martin Polaschek übergeben.
Im Folgenden soll dargelegt werden, in welch hohem Ausmaß die Meinung und Wünsche der Jugendlichen Eingang in den Lehrplanentwicklungsprozess gefunden haben. Dazu werden Zitate (bzw. Forderungen) aus dem Jugendbericht entsprechend kommentiert.
Gesellschaftliche Mitbestimmung
„´Wir würden gerne bei allem mitbestimmen, was uns betrifft, aber das ist nicht erwünscht. Es wird einem alles von oben angesagt.´ Fast 77% haben das Gefühl, in der Politik nicht gehört zu werden.“ (YEP-Jugendbericht, S. 13)
Jugendliche werden bei der Lehrplanentwicklung als vollwertige Anspruchsgruppe einbezogen. Neben der Befragung von 17.500 Jugendlichen wurde ein eigener Jugendbeirat gebildet, dieser vertritt die Position der Jugendlichen während des gesamten Erstellungsprozesses. Hierzu finden Treffen im sog. „talent garden“ von YEP und Videokonferenzen mit dem Kernteam der Lehrplanerstellung statt. Auch zu den ausgearbeiteten Zwischenergebnissen gibt der Jugendbeirat Feedback.
Motivation und Lernerfolg
„[…] Außerdem geben 37% ´Ich weiß nicht, warum ich das lernen soll – was hat das mit meinem Leben zu tun?´ als Grund für ihre fehlende Motivation in der Schule an. Die Frage nach dem WARUM: Relevanz von Lehrinhalten zu kennen, ist maßgeblich für guten Lernerfolg.“ (YEP-Jugendbericht, S. 20)
Ausgangspunkt der Arbeiten zum neuen HAK-Lehrplan war die Definition eines Zielbildes zur Zielorientierung.
Die Ziele des neuen HAK-Lehrplans (i.e.S. Beschäftigungsfähigkeit, Studierfähigkeit & lebenslanges Lernen, Lebensgestaltbarkeit und Mündigkeit) können kaum erreicht werden, wenn ausschließlich Fachkompetenzen aufgebaut werden. Die neuen Kompetenzen sollen so formuliert werden, dass Schülerinnen und Schüler diese in neuen Situationen anwenden und einsetzen können, z.B. lernen Schülerinnen und Schüler, anhand unterschiedlicher Probleme unterschiedliche Sichtweisen zu verstehen und einzunehmen, und sollen dadurch in späteren Situationen mehrperspektivisch Denken können. Alle Unterrichtgegenstände werden so aufgebaut, dass das Ziel und der Sinn gut sichtbar werden und Schülerinnen und Schüler jederzeit erkennen können, welche Kompetenzen und Inhalte in welchen Jahrgängen erlernt werden sollen. In der Handelsakademie lernt man nicht nur das „know how“, sondern auch das „know why“ („Wofür brauche ich das?“).
Life Skills
„Schülerinnen und Schüler wünschen sich, dass sie in der Schule auf ihr späteres Leben als Erwachsene vorbereitet werden. Besonders relevant wird dabei das Thema Finanzbildung empfunden. Außerdem nennen die Schüler*innen Themen wie Versicherungen, Vorsorge oder Verträge.“ (YEP-Jugendbericht, S. 27)
Ein neuer Pflichtgegenstand „Private Wirtschaftskompetenz“ (Economic Literacy) zielt auf die Fähigkeit der Absolventinnen und Absolventen ab, in ökonomisch geprägten Lebenssituationen im Privatbereich bzw. Alltag reflektierte und nachhaltige (ökonomisch, sozial & ökologisch bewusste) Entscheidungen treffen zu können. Ausgehend von strategischen Entscheidungen im Privatleben wird der Fokus auf die überwiegend operativen Entscheidungen in den Bereichen Finanz- & Verbraucherinnen- und Verbraucherbildung, Berufs- & Arbeitswelt (inkl. Steuern) und – unter sanfter Hinführung an den volkswirtschaftlichen Bereich – Markt & Staat (inkl. moralischer Handlungsoptionen) gerichtet.
Um die Inhalte in sämtlichen Unterrichtsgegenständen festzulegen, wurden Befragungen durchgeführt, Studien in Auftrag gegeben und viele Expertinnen und Experten sowie Unternehmerinnen und Unternehmer interviewt, welche Kompetenzen und Inhalte zukünftig relevant sein werden. Möchte man all diese Impulse einfach zusammenfassen, so lässt sich sagen, dass es nicht um die Wiedergabe von Unmengen an Theorie gehen soll, sondern um das zielgerichtete Lösen von Problemen und um theoriegeleitetes Handeln.
Praxiserfahrungen in den kaufmännischen Schulen
„Kontakt zu Unternehmen: Schülerinnen und Schüler finden den Kontakt zu Unternehmen besonders spannend. Sie wünschen sich mehr Exkursionen zu Unternehmen, aber auch mehr Besuche von Unternehmerinnen und Unternehmer, die ihnen einen Einblick in das Berufsleben und die verschiedenen Berufsfelder geben können.“ (YEP-Jugendbericht, S. 33)
Im neuen HAK-Lehrplan sind zahlreiche Praxiskontakte vorgesehen. So können im Unterrichtsgegenstand Business Experience Projekte mit Unternehmen abgewickelt werden. Das Pflichtpraktikum bleibt in gewohnter Form bestehen. Darüber hinaus bleibt die Übungsfirma als das Herzstück der kaufmännischen Ausbildung im IV. Jahrgang erhalten, die digitale/papierlose Übungsfirma inkl. Prozessorientierung wird Standard werden.
Fremdsprachen
„Wenn die Schülerinnen und Schüler gefragt werden, ob bzw. wie viele Fremdsprachen sie neben Englisch in der kaufmännischen Schule lernen wollen, dann antwortet die Mehrheit (47%), dass sie eine weitere Fremdsprache lernen wollen. Diese soll als Wahlfach angeboten werden.“ (YEP-Jugendbericht, S. 28)
Der neue Unterrichtsgegenstand „Internationale Kommunikation mit Fokussprache …“ steht ganz im Zeichen des freudvollen Sprachenlernens und dient dem Aufbau von mehrsprachiger und mehrkultureller Kompetenz, dem Kompetenzaufbau in einer gewählten Fokussprache (sämtliche Fremdsprachen, die bisher möglich waren) sowie der Förderung der Familiensprachen und vorgelernter Sprachen. Die Schwerpunktsetzung in der Fokussprache erfolgt auf mündliche Kommunikation sowie auf den reflektierten Einsatz von KI (z.B. im Schriftverkehr). Natürlich bildet die englische Sprache weiterhin den Kern der Fremdsprachenausbildung.
Starker Wunsch nach modularem Lernen
„Modulares Lernen, beziehungsweise das Auswählen von Modulen während der Schullaufbahn (anstatt des Wählens von Schwerpunkten beim Schuleinstieg) wird von den Schülerinnen und Schülern des Öfteren erwähnt und gewünscht […]“ (YEP-Jugendbericht, S. 24)
Neben den bisherigen Wahlmöglichkeiten – insb. des Ausbildungsschwerpunktes – werden weitere Wahlmöglichkeiten angeboten. So kann die Klasse zwischen verschiedenen Inhaltsmodulen im Unternehmensgegenstand Business Experience wählen, und im letzten Jahrgang besteht für jede Schülerin und jeden Schüler die Möglichkeit, zwischen einer Vertiefung im Gegenstand „Internationale Kommunikation mit Fokussprache…“ oder einer anderen Vertiefung im Bereich der Allgemeinbildung zu wählen.
Digitalisierung
„Die Nutzung von Tablets, Laptops und Computern wird positiv wahrgenommen. In Bezug auf digitale Lerninhalte wird von Schülerinnen und Schülern vermehrt die Aktualität und Relevanz von Hardware, Software und Lehrinhalten in Frage gestellt.“ (YEP-Jugendbericht, S. 20)
Aufgrund der raschen Entwicklungen wird im Rahmen der Lehrplanerstellung ein besonderes Augenmerk auf den IT-Bereich gelegt. Daher wird ein neuer Gegenstand „IT Business and Creative Solutions“ die Gegenstände WINF und OMAI ablösen, um die Absolventinnen und Absolventen bestmöglich zu qualifizieren und eine IT-Ausbildung am Puls der Zeit anzubieten. Ein spezielles Ziel im HAK-Lehrplan bildet die digitale Applikation, also der zielgerichtete und reflektierte IT-Einsatz in sämtlichen Bereichen, z.B. mittels Apps, Unternehmenssoftware, Verwendung künstlicher Intelligenz oder das kreative Lösen von Problemen mittels IT.
Da (neben vielen anderen Anspruchsgruppen) Jugendliche den Lehrplanprozess mitgestalten, ist die Basis dafür gelegt, dass zukünftig ein noch freudvolleres Lernen an den Handelsakademien stattfinden wird.
Evidenzen
Der Lehrplan soll auf Basis fundierter Erkenntnis erstellt werden. Diese erhielten wir u.a. aus
Studien
Forschungsarbeiten z.B. Dissertationen, Masterarbeiten
Eigenen Befragungen von Unternehmen
Fachartikeln
Tagungsergebnissen o.ä.
Analysen von Stelleninseraten
Einige der Ergebnisse finden Sie in den Quellen.
Resonanzphase 1
Ablauf und Ergebnisse der Resonanzphase vom April bis Juni 2023.
Grobablauf
Frühjahr 2021
Start der Delphi-Studie (Beauftragung der WU Wien)
Erste Befragungen der ARGE-Leiter
Frühjahr 2021
Erste Befragungen der Schulleitungen
Festlegung von Basisbausteinen
Herbst 2021
Start der UNE-SIM-Studie (Beauftragung der KFU Graz)
Start der Jugendpartizipationsstudie (Beauftragung der YEP)
Impulsvorträge und -gespräche mit Lehrer/innen, Schulleitungen, Externe
Frühjahr 2022
Befragung im Bereich der IT
Impulsgespräche an den Universitäten mit allen 4 Wipäd-Standorten
Weitere Impulsgespräche und Workshops z.B. BMK, Schulleitungen
Unternehmer/inneninterviews
Fachkonferenz für Führungskräfte
Festlegung der Bildungsziele
Herbst 2022
Impulsgespräche mit Wissenschaft, Interessensvertretungen, …
Unternehmer/inneninterviews
ARGE-Tagungen
Konkretisierung der Bildungsziele durch Umsetzungsvorschläge
Resonanz zur Gesamtkonzeption (Beauftragung der JKU Linz)
Frühjahr 2023
ARGE-Tagungen
Modifikation der Umsetzungsvorschläge
Resonanzphase zu den Umsetzungsvorschlägen (April – Juni 2023)
Insgesamt 1.200 Personen und über 300 Briefkasteneinträge
20.04.: Fachkonferenz für Führungskräfte
10.05.: Präsentation vor LPDs
24.05.: Gespräche mit Fremdsprachengruppen Präsentation vor allen 4 WIPÄD-Standorten
30.05.: Webcast 1 + 2
05.06.: Webcast 3
06.06.: Große Resonanzgruppe inkl. Interessensvertreter
06.07.: Gespräche mit 2 WIPÄD-Standorten
Herbst 2023
Auswertung der Resonanzergebnisse
Weiterentwicklung bzw. Abänderung der Umsetzungsideen
Frühjahr 2024:
Finalisierung der Fachlehrplanentwürfe für den Wirtschaftsbereich
Resonanzphase 2
Start der schulartenübergreifenden Arbeitsgruppen für die allgemeinbildenden Unterrichtsgegenstände
Ab Herbst 2024
Legistischer Prozess inkl. Begutachtungsentwurf
Vorbereitung der Schulbücher
Herbst 2025 oder 2026
Implementierung an den Schulen